(Aus dem Russischen von Oxanna Jacobs)
Jules de Bruycker - ein herausragender Meister der Radierkunst des
20. Jahrhunderts, ein Maler, dessen Werke in vielen Museen der Welt aufbewahrt werden: in
London und Rom, Chicago und Barcelona und anderen Städten. Eine Radierung des belgischen
Künstlers ist in der Kollektion der Staatlichen Eremitage [St. Petersburg] ausgestellt.
Die Radierung entwickelte sich in Belgien seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Am Ende des
Jahrhunderts erreicht sie ihre Blüte mit den Werken von Felicien Rops und James Ensor.
Für diesen Künstler [de Bruycker] ist ein scharfes Interesse zur Umgebung, zum Konkreten
und Charakteristischen typisch. Er ist geiziger, zuweilen schonungsloser Beobachter.
Zugleich ist er ein Phantast, der die Realität ins Bizarre, manchmal Groteske, aber immer
in poetischen Gestalten verwandelt.
Nicht nur ein tiefer poetischer Inhalt unterschiedet die Arbeiten von Jules de Bruycker,
auch eine feine Meisterschaft, mit prachtvoller Materialbeherrschung. Er nutzt alle
Möglichkeiten der Radiertechnik: Ausdruck einer leichten, nervösen Linie, das Samtweiche
des schwarzen Tones, der mit schimmernden Lichtblicken kontrastiert. Die besten
Radierungen de Bruyckers erinnern uns an Rembrandts Listen.
Jules de Bruycker hat seine Berufung nicht sofort gefunden: seine ersten Radierungen hat
er im Alter von 36 Jahren ausgeführt. Das Leben des zukünftigen Malers war nicht
einfach. Er ist im Jahre 1870 in Gent in der Familie eines Tapetenwerkstattbesitzers
geboren.
Jules hat schon früh angefangen seinem Vater bei der Arbeit zu helfen. Auch dort fing er
an zu Malen und zwar so leidenschaftlich, daß sein Vater ihn in eine Kunstakademie
schickte. Armut hat ihn jedoch daran gehindert, ein Profi zu werden. Er mußte als
Tapetenmeister arbeiten, aber er hat weiter gemalt.
Seine Arbeiten hatten Aufmerksamkeit auf sich gezogen und es wurde eine kleine Ausstellung
organisiert, aus der ein Teil seiner Arbeiten verkauft wurde. Das Geld, das er für seine
Zeichnungen bekam, gab dem Maler die Möglichkeit ein eigenes Atelier im Jahre 1900 zu
mieten. Aber seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Tapetenmeister. De Bruycker
empfindet Zuneigung fürs Aquarell und versucht auch mit Öl zu malen - und malt viel.
"Ich habe immer mit Freude und Leidenschaft gemalt, damals ahnte ich noch nicht, daß
noch eine Art der Kunst existiert, die ich später vor allen anderen bevorzugen
würde" (Le Roy 1933, S. 14), erinnert er sich später.
Das Interesse für die Radierung entflammte ganz plötzlich. Einst hat de Bruycker in den
Fenstern eines Museums eine Radierung des Radiermeisters Bertsons aus Gent gesehen und
fing an in der Werkstatt des Graveurs Fritz van Loo Radiertechnik zu lernen, wo er im
Jahre 1906 seine erste Tafel radierte. Seit dieser Zeit ist die Gravur zu seiner
beliebsten Art der Kunst geworden, der er sein ganzes Leben widmete.
Sein Leben war arm an äußeren Ereignissen. Ein großer Kenner seiner Werke, ein
belgischer Kritiker Gregoire le Roy schreibt, daß der Maler sein ganzes Leben einsam
gelebt hat, wie ein Mönch, eingeschlossen in seinem eigenen Atelier. Für einen
Phantasten aber wird oft eine Weltreise durch seine Einbildungskraft ersetzt. Sein Leben
führt de Bruycker in Gent. Die Heimatstadt weckt in ihm seine Malerbegabung und
inspirierte ihn mehrere Jahre seines Schaffens.
Der Laden seines Vaters wurde die erste Lehrstätte für den sensiblen Jungen. Dort geriet
er in die Umwelt junger Arbeiter, lustiger und geistreicher Menschen, die sich amüsierten
durch die Nachahmung von Zirkusartisten. Der Maler erinnerte sich: "Es hat die große
Langeweile meines Handwerks vertrieben. Vielleicht habe ich daraus irgend einen Nutzen
gewonnen? Vielleicht haben mir diese lustigen Kompagnons beigebracht, daß es sich nicht
lohnt, das Leben zu ernst zu nehmen, daß im Leben ein wenig Phantasie nicht schaden
kann?" (Le Roy 1933, S. 12)
Durch die lustige Ironie dieser Worte schimmert die Aufrichtigkeit der Anerkennung, die
wahrscheinlich das Geheimnis seines Schaffens enthüllt und seine wahre Beziehung zur
Wirklichkeit zeigt. Das Leben, das de Bruycker umgab, entspricht nicht seinen
Vorstellungen. In seinen Arbeiten gestaltet er es um, unterstreicht phantastische Züge,
Humor und Ironie. Solch eine Methode bedeutet nicht, daß der Maler vor der realen Welt
flüchtet, daß er sie ablehnt. Nein, ausgerechnet das Leben und vor allem seine
Heimatstadt haben sein Schaffen und seine Einbildungskraft geprägt.
Frühere Radierungen de Bruyckers sind Gents Einwohnern gewidmet. Seine Modelle fand er
auf den Straßen und Märkten. Die Stadt und ihr alltägliches Leben hielt der Meister
für seine Schule. "Meine besten Unterrichtsstunden bekam ich im Wartesaal der
dritten Klasse, im Theater, auf den Bänken des Paradieses, und auf den Straßen. Es war
die Akademie, die mir im Überfluß interessante Typenreihen lieferte." (Le Roy 1933,
S. 9). Ebenso wie Daumier, mochte es de Bruycker, während der Theatervorstellung das
Publikum zu beobachten und dessen spontanen Wahrnehmung zu folgen. In seiner Radierung Das Paradies (Theater) stellt (1907) der Maler die von der
drückenden Hitze und der Vorstellung erschöpften Zuschauer dar. In zwanglosen Posen
haben sich auf den groben Bänken Stammgäste des Paradieses gesetzt, Leute mit ermüdeten
Gesichtern und in zerknitterten Kleidern. Sie sind in die Vorstellung vertieft. Die
scharfsinnige Methode, die de Bruycker in der Radierung benutzt, erinnert an Daumiers
Kompositionen der Theaterskizzen: Parallelen von Bankreihen werden durch dunkle
Zuschauerfiguren als Flecken durchbrochen.
Der belgische Meister bildet auf dem Blatt nur Bänke mit Zuschauer ab. Diese Menschen
werden jetzt mit Hilfe der Kunst von "flacher Wirklichkeit" aus der eigenen
Armut und dem Elend in eine illusorische Welt getragen. Sie sind lustig und rührend -
elend. Komisches wird hier mit Trauer verbunden, was besonders für de Bruycker
charakteristisch ist. Sein Lachen ist immer betrübt.
Humor bei Jules de Bruycker lebt sich nicht nur mit Traurigkeit und Mitleid, sondern auch
mit Tragik. Man spürt es besonders scharf in den Gestalten armer Leute aus Gent, die die
Straßen und Märkte in seinen früheren Radierungen bevölkern. In der Gravur Alter Markt in Gent (1907) sieht man
mißgestaltete, ungereimt, in Lumpen angezogene Kinder und Greisinnen, scheußliche
Krüppel und elende Habseligkeiten bilden ein ärmliches und bedrückendes Bild. In den
Menschenfiguren gibt es etwas Groteskes.
In den früheren Radierungen zeigt sich das Interesse des Malers für das Volksleben,
Mitleid zu den Armen, Bitterkeit, die durch den Anblick auf Elend und Armut hervorgerufen
wird. Aber man findet bei de Bruycker weder Anprangerung des sozialen Unrechts, noch
Protest. Dabei strebt er danach, wie wir schon wissen, und wie man mit seinen Worten sagt,
"Man soll nicht zu ernst aufs Leben schauen", und daraus stammt der groteske
Charakterzug seiner Typenreihe.
In den Jahren 1909 - 1911 läßt de Bruycker zeitweise die Gravur bleiben und beschäftigt
sich mit dem Aquarell und der Guasche. In den Radierungen der folgenden Jahre geben die
Genreskizzierungen den Phantasieszenen nach. Ein überzeugendes Beispiel für solche Art
von Arbeiten, sowie nach dem Sujet, als auch nach der Stimmung und dem künstlerischen
Verfahren, ist die Gravur Um das
Grafenschloß in Gent (1913). Es wird ein riesiges, wie ein Felsen, in den dunklen
Himmel verschwindendes Schloß abgebildet. Am Fuß rennen winzige Geschöpfe herum, sie
stellen brüchige Steigleitern zu den unzugänglichen Wänden heran. Das Schloß ist
grenzenlos riesig, die Leute grenzenlos klein. Alles wird von einem phantastischen Licht
beleuchtet, das mit dem tiefen Schatten des Vordergrundes kontrastiert. Bei der zackigen
Wand des alten Hauses, dessen Fenster unheimlich schimmern, wimmeln dunkle Figuren. Eine
von denen, mit unnatürlich langen Händen, zeichnet sich aus der beleuchteten Tiefe ab.
In dieser Figur konzentriert sich gleichsam die beunruhigende Stimmung, mit der die ganze
Radierung durchdrungen wird. Dieses ist überhaupt für solche Arbeiten des Malers
typisch, wie Das Haus des Jean Palfijns
(1912), Montage des Drachens auf dem
Belfried in Gent (1914), welche in den Vorkriegsjahren geschaffen wurden.
Charakteristisch ist, daß die phantastische Vision entstand, nach Aussage des Malers,
unter dem Eindruck des alten Schlosses der Grafen aus Flandern, das im Zentrum Gents
steht. Es umringen, an den Wänden klebende Häuschen, Lädchen, eine kleine Gewebefabrik
und rauchende Schornsteine. Die romantische Einbildungskraft malte ihm eine pathetische
Szene im Geiste des Gustave Dorè. Die Begeisterung von Dorè zeigt sich besonders in der
Radierung Das Haus des Jan Palfijns. Diese erinnert sehr stark mit ihrer Komposition an
die Radierung Dorès zu Balsacs "Zügellose Erzählungen". Selbst in der
Ausdrucksweise der plastischen Mittel und in der Pathetik der Arbeiten aus dieser Zeit
fühlt man den Einfluß der künstlerischen Manier des französischen Meisters.
In der Radierung de Bruyckers Um das
Grafenschloß ist alles auf Kontraste aufgebaut: Kontrastierung der kleinen Figuren
und des riesigen Schlosses, rasanter Bewegung der Menge und drückender Größe der
Architektur, Kontrast des Lichtes und Schatten bilden den Eindruck eines dramatischen
Konflikts. Diese Gravur beweist die brillante Meisterschaft de Bruyckers: er kann die
Ausdruckdetails einem grandiosen Ganzen unterordnen, es wird mit klarer Komposition und
effektiver Schatten Lichtverteilung erzielt. Die Radierung tut sich durch bemerkenswerte
Tonschönheit hervor: das tiefe Schwarz des Vordergrundes wird mit der Silberfarbe des
Schlosses, mit schimmernden dunklen Wolken des Himmels gegenübergestellt.
Nach der bildenden Methodik, die eine dramatische Aufregung erzielt, ist mit der Radierung
Um das Grafenschloß auch die
Radierung Die Montage des Drachens
auf dem Belfried verbunden. Hier wird de Bruycker vom Mittelalter inspiriert: im Jahre
1380 ist auf dem Stadtturm Gents ein drei Meter hoher Drache aufgestellt worden. Das
historische Sujet wird vom Maler phantastisch gedeutet: die abgebildeten Menschen sind
zeitgenössisch gekleidet. Und wieder zeigt er eine in Panik geratene Menschenmenge. In
den Radierungen aus der Zeit drückt er eventuell die Vorahnung der naheliegenden
Erschütterungen aus, die Belgien in den Jahren des Ersten Weltkriegs zu erleben bestimmt
war. So rückblickend des Sujets, gleichen seine Arbeiten der Gegenwart.
De Bruyckers Name gewinnt eine breite Popularität, sowie in der Heimat, als auch im
Ausland. Die Radierung Die Montage
des Drachen auf dem Belfried wurde ausgestellt auf einer internationalen Ausstellung
der Radierung im Jahre 1914 in Leipzig.
Die typische Dramatik für seine Vorkriegswerke verdichtet sich in den späteren Arbeiten.
Er wandert nach England aus und schafft dort einen Radierungszyklus, der die Tragik des
Krieges abbildet. Dessen Tragik deutet er in einem allegorischen Sinne, wo er fast
überall das klassische Symbol des Todes benutzt.
Die am besten gelungene Arbeit aus dieser Serie ist Der Tod über Flandern (1916). Selbst der Name
sagt schon etwas über die verallgemeinerte Behandlung des Themas aus. Der Krieg wird von
ihm wie eine unvermeidliche spontane Kraft empfunden, die den Untergang seiner Heimat
bringt. Es ist wenig, das in dieser Gravur an das 20. Jahrhundert erinnert - allein die
groben Soldatenstiefel auf den Füßen des Todes.
Zweifellos, hier wird de Bruycker von der Gestalt Flanderns inspiriert, die von Pieter
Breughel dem Älteren geschaffen wurde. Die Hinwendung an das Werk des großen Vorgängers
hat sich schon in frühen Radierungen zu erkennen gegeben. Breughels Einfluß spürt man
in der grotesken Interpretation der armen Gestalten. Seine Begeisterung vom
"Primitiven" insbesondere von Breughel, war im allgemeinen für die belgische
Kunst am Anfang des 20. Jahrhunderts charakteristisch. Einige führten es zur
absichtlichen Archaisierung und Stilisierung, aber de Bruyckers Hinwendung an die
vergangene Kunst war organisch und fruchtbar.
Der Maler zeigt eine verschneite Landschaft mit kahlen Bäumen und sieht es aus der
Vogelperspektive. Über der Landschaft herrscht, wie ein dunkler Felsen, eine riesige
Kathedrale. Ihr schmales, als Spalte dargestelltes, unheilvolles Portal zieht in einem
unendlichen Strom eine Menge von Menschen in sich hinein. Sie ähneln den brüchigen
Wesen, abgebrochen und gehorsam. Über der ganzen Szene herrscht ein Skelett - der Tod,
der von dem Gipfel der Kathedrale nach unten blickt.
Die Gegenüberstellung des großen Skelettes zu den elenden Geschöpfen, die auf der Erde
wie Insekten kriechen, die Gegenüberstellung der hellen Ebene zum dunklen Himmel, die
senkrechte Kathedrale zu den lang gestreckten Feldern schafft einen gewaltigen Kontrast
der Gestalt, die voll von Tragik und tief erhabenem Gram ist.
Im Verlauf der ganzen Serie interpretiert der Maler das Kriegsthema in einer solchen
allegorischen Weise, abgelenkt vom Konkreten. Nur in der Radierung Der Schützengraben (1916) zeigt er Leichen von
Soldaten in Mäntel.
Diese Ablenkung von den unmittelbaren Ereignissen der Gegenwart, entzieht ohne Zweifel
Radierungen de Bruyckers die politische und soziale Schärfe. Mit der waren z.B. die
Antikriegsgravuren seines Landsmannes und Freundes Frans Masereel überfüllt. Immerhin,
abgesehen davon, daß der Maler fern von dem Geschehen war, ist es ihm in seinen Arbeiten
gelungen, hohe Humanität, scharfen Schmerz und Gram auszudrücken, die in ihm angesichts
der Todesfeier geboren wurde.
Als er im Jahre 1919 in die Heimat zurückkehrte, wendet es sich erneut in seiner Kunst
dem heimischen Gent und seinen Bewohnern zu. Aber diese Arbeiten sind von neuen Gedanken
und Stimmungen gefüllt, welche auch anders dargeboten werden.
Wie früher sucht de Bruycker seine Modelle in tieferen Gesellschaftsschichten. Ihm
posiert ein gewisser armer Greis Namens Jacobus Alijn. Der inspiriert den Maler zum
Schaffen einer Serie von Portraits. In diesen verschwindet jeglicher Spott und Ironie, die
den früheren Abbildungen eines Menschen bei de Bruycker entsprach. Hier verstärkt sich
das Interesse des Malers an individuellen Zügen, an dem einzigartigen Charakteristischen
in der Gestalt des Portraitierten.
Hier ist eines der Blätter aus dieser Serie - Der Bettler Jacobus Alijn in
Frontalansicht (1921). Der Maler plaziert die große Figur im Zentrum, die das ganze
Blatt so ausfüllt, daß kein Platz für den Hintergrund bleibt. Dank dieser
Kompositionsweise gibt de Bruycker der Menschengestalt eine Bedeutsamkeit. Der Greis sitzt
mit einem gekrümmten Rücken, in ihm ist so viel von Müdigkeit, Gehorsam, trauriger
Konzentration und Überlegung. Zerbrechliche, spröde Linien legen sich in Falten auf das
müde Antlitz des Armen. Das Gesicht ist nicht schön, aber es ist durch Asymmetrie und
anziehende Ausdrücklichkeit interessant. Es ist bewegungslos wie das Gesicht eines
Menschen, der in sich selbst vertieft ist - bedeutend in seiner Bewegungslosigkeit,
dramatisch in der müden und bitteren Nachdenklichkeit. Genau so ausdrucksvoll sind die
Hände. Der Maler unterstreicht deren Grobheit und deren Schwere. Müde und ruhig legt er
seine Hände ineinander, der bettelarme Greis - der Philosoph.
Die Verallgemeinerung der Gestalt, das mit der scharfen Übergebung der individuellen
Zügen gepaart ist, die Tiefe der psychologischen Charakteristik, das Ganze überhaupt,
erinnert uns bei dem Blick auf diese Radierung an Rembrandts Greisenportraits. Kann sein,
daß er während seiner Arbeit an dieser Gravur unbewußt das Zugeständnis dem großen
Holländer gegeben hat.
Die Radierung Jacobus Alijn in
Frontalansicht und eine Reihe von anderen Portraits des Jacobus Alijn, die in dieser
Manier angefertigt wurden, sind die am besten gelungenen Abbildungen eines Menschen im
Schaffen Jules de Bruyckers.
Es ist wichtig zu bemerken, daß Anfang des 20er Jahre in der belgischen Kunst der
Expressionismus vorherrschte. Darunter waren auch viele Graphik begeisterte Maler
vertreten. Sie wurden oft vom Menschen aus dem einfachen Volk inspiriert, aber dessen
Gestalt wurde als eine Verkörperung von primitiven Naturkräften aufgefaßt. Im
Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen hat de Bruycker mit viel Aufmerksamkeit das
komplizierte, geistige Leben einfacher Menschen befolgt. Hierin zeigt sich die wahre
Demokratie des Malers und, außerdem, die nur ihm charakteristischen, unabhängigen
Empfindungen von Aufrichtigkeit, die die Eigenartigkeit seiner Kunst prägte. Das Motiv
der vereinsamt sitzenden Figur interessiert den Maler auch später, als er nach einer
vierjährigen Pause wieder zur Radierung zurückkehrt.
In seinen Gravuren der 20er Jahre verschwindet das tragische Pathos und mitunter löst
sich auch die psychologische Tiefe auf. Der Maler strebt bisweilen nur noch nach
Offenbarung der physischen Gestalt des Portraitierten und benutzt dabei eine starke
Deformation. Die Linie wird oft stark raffiniert, wie z.B. in der Radierung Die Strickerin (1925). Aber solch eine Art von
Aufgaben und formalen Experimenten konnte de Bruycker auf Dauer nicht befriedigen, und im
Jahre 1925 malt er ein Selbstportrait, das von
der psychologischen Anstrengung, Gestalttiefe und Manier nah zu seiner Portraitserie des
Jahres 1921 steht. Aber im Unterschied zu diesen fehlt in seinem Selbstbildnis das Majestätische: Genauso wie in
dem Portrait des armen Greises Jacobus Alijn, modelliert der Maler sorgfältig sein
Gesicht und seine Hände, die Kleidung dagegen wird nur mit wenigen treffenden Linien
gezeichnet.
Der Maler steht sich selbst, seiner eigenen Äußerlichkeit, genau so ironisch gegenüber,
wie zu seinen Modellen. So hat er sich selbst mal spöttisch beschrieben: "Ich habe
krumme Beine, weil ich sie während der Arbeit verschränke, und stütze mich auf dem
einen Bein, wie es die Störche tun. Mein Rücken wurde krumm, weil ich mich tagelang
über meinen Tisch krümmte. Und meine Arme sind so lang wie bei einem Affen, damit ich
bis zu den oberen Platten reichen kann" (Le Roy 1933, S. 26).
Im Selbstbildnis zeigt sich der Maler mit der
für ihn ironischen Übertreibung des Charakteristischen. Er unterstreicht die unschönen
Züge eines knochigen Gesichts, ausfallendes Haar, dürre Hände mit langen Fingern. Aber
hinter seiner konkreten Individualität steht eine breite Verallgemeinerung der Gestalt.
Vor uns ist ein leidenschaftlicher, feiner Beobachter der Wirklichkeit. Er schaut
angestrengt in das vor ihm ablaufende Leben hinein, ist immer bereit seine Bewegungen zu
fixieren. Sein nach vorne geneigter Kopf, die fest aneinander gepreßten Finger, die den
Bleistift halten, und insbesondere der mürrische Blick der großen Augen, die über die
Brille hinweg schauen, zeigen wie alles voller Anstrengung ist.
Allmählich, Mitte der 20er Jahre, wurde die Darstellung von Menschen in seinem Schaffen
sekundär und gibt den Platz frei für das mit der Architektur verbundene Thema. Im Jahre
1925 schafft der Meister eine neue, sich in der Eremitage befindende Radierung Die neue Brücke in Paris, die einen Teil
des Kais der Seine in Paris abbildet (Anm.: Lt. der Monographie von le Roy von 1933 ist
diese Gravur 1929 entstanden). In einer komplizierten Komposition armer Figürchen, die
sich an dem kalten Stein anlehnen, scheinen diese nichtig und elend im Vergleich mit der
Architektur zu sein. Bedingungslos, in dieser übertriebenen, konstanten
Gegenüberstellung, liest man den Gedanken des Malers über die tragische Hilflosigkeit
und Einsamkeit der Armut, über die feindliche Kälte der Stadt zu ihr. Jedoch als
"Hauptfigur" der Radierung bleibt die Architektur selbst. Diese zeigt der Maler
leidenschaftlich. Er bewundert die adelige Proportionen der alten Brücke, die straffen
und gewaltigen Umrisse der Bögen mit dekorativen Masken, und Ornamente der Steine.
Betrachtend, und danach die architektonischen Denkmäler abbildend, befreit sich de
Bruycker quasi von der für ihn typischen Ironie und erlaubt sich bis zum Ende erhaben und
romantisch zu sein. Deswegen sind vielleicht die architektonischen Landschaften - das
Beste, was er kreierte. Insbesondere faszinierte ihn die Gotik. In vielen Radierungen
zeigt er Ausschnitte des alten Gents und alleinstehende architektonische Bauwerke, wie z.
B. Die Kirche und Brücke St. Michael
(1928), Das Quai St. Peter in Gent aus dem selben
Jahr. Die Stadtlandschaften de Bruyckers vergleichen sich natürlich mit den Werken von
zwei anderen berühmten Graveur-Dichtern der Architektur: dem Franzosen Charles Merion und
dem Engländer Frank Brangwyn. Dem ersten ähneln seine Werke in der Majestät und
Monumentalität, aber unterscheiden sich von diesen durch die für de Bruycker typisch
latente Dramatik und innere Dynamik. Brangwyns Werke nähert er sich in seinem
romantischen Pathos, was die alte Architektur angeht, aber de Bruycker hingegen besitzt
mehr Poetisches und Feines.
Alle diese Qualitäten haben sich in einem Radierungszyklus enthüllt, der den gotischen
Kathedralen (1929 - 1932) gewidmet wurde. Wie keinem anderen ist es ihm gelungen, die
Größe und phantastische Schönheit der Gotik zu zeigen.
Das erste Blatt aus der Serie, Die
Kathedrale von Antwerpen (1929), erinnert nach der Komposition und der Verteilung des
Lichtschattens und des Sujets, an die frühen Radierungen wie, z.B. Um das Grafenschloß in Gent. Hell und
schimmernd schwebt die Fassade der Kathedrale nach oben. Die Betrachterperspektive
befindet sich sehr tief, man sieht kaum einen kleinen Teil des Gebäudes - damit wird das
verblüffende Gefühl der Grandiosität und Erhabenheit erzielt. Die Komposition der
Radierung ist fast symmetrisch, aber ihre potentielle Statik ist durch heftige Verkürzung
der Perspektive gebrochen, in dieser sind die Gebäude des Vordergrundes abgebildet. Die
Kathedrale zeigt sich auch leicht unter einem Winkel - dies schenkt der Landschaft
zusätzlich Dynamik und Aufregung.
In der Gravur Die Kathedrale von Antwerpen
(1929) treffen wir das Lieblingsmotiv des Malers wieder - die Menschenmenge, die am Fuß
der Kathedrale aufsteigt. Es wird anscheinend ein Fest gezeigt: über den Menschenströmen
wehen die Wimpel und Fahnen; mit Flaggen werden selbst die Gebäude geschmückt und auf
den Balkons kann man winzige Figürchen von aufgeregt gestikulierenden Menschen sehen. In
der Radierung fehlt der dramatische Konflikt, der seinen früheren Arbeiten
charakteristisch war. Die Leute und Gebäude sind hier wie in einer gemeinsamen Regung und
Begeisterung geraten. Die Schönheit der Architektur wird mit einer brillanten
Meisterschaft wiedergegeben, mit tadellosem Maß der Detailierung und notwendigem Grad der
Verallgemeinerung. Man sieht jeden Vorsprung der komplizierten Oberfläche des Domes. Die
leichten durchsichtigen Linien unterstreichen seine Schlankheit und die reiche Palette der
Farbtöne umwickelt die dunklen Häuser.
Manchmal malt de Bruycker Fragmente des Domes, am häufigsten das Portal - Die Kathedrale von Amiens (1932), Die Kathedrale von Brügge (1931). Beide
Radierungen zeichnen sich durch klare Komposition und verblüffende Feinheit in der
Wiedergabe von komplizierten Gotikdetails aus. Die Architektur schimmert, sie lebt in der
räumlichen und himmlischen Umgebung. Man kann eigentlich mit diesen Arbeiten die
Übersicht von de Bruyckers Radierungen beenden, denn danach folgen nur noch wenige
Gravuren und bringen nichts Neues in seinem Schaffen.
Der verschlechterte Gesundheitszustand hindert den Maler daran die abschließenden
Ätzungen zu machen. Er arbeitet nur noch zeitweise, macht nur kleinere Platten. Kurz vor
seinem Ableben, in den 40er Jahren, kehrt er zurück zur Zeichnung. Im Jahre 1942, im
Album Unsere Leute, werden die letzten Radierungen des Malers veröffentlicht. Aber nach
Meinung belgischer Kritiker, sind diese Radierungen vom künstlerischen Standpunkt her
nicht so sehr interessant, sie sind ein psychologisches Dokument. Im September 1945 stirbt
de Bruycker.
Sein Schaffen stellt eine leuchtende und charakteristische Erscheinung in der belgischen
Kunst des 20. Jahrhunderts dar. Seine Humanität bildet sich bei ihm, wie bei vielen
anderen Malern aus diesem Jahrhundert, in einer aufregenden Überlegung über einen
Menschen. Es gibt dem ganzen Werk eine dramatische Farbe; schrille Emotionalität, Neigung
zur Phantasie, Interesse an einfachen Leuten. Alle diese Züge sind mehr oder weniger
typisch für die besten Vertreter der belgischen Kunst Ende des 19., Anfang des 20.
Jahrhunderts. Aber im Unterschied zur Mehrheit der gegenwärtigen Maler, die zuerst nach
Verallgemeinerung strebten und der Lapidarität der künstlichen Form, bleibt de Bruycker
mehr als jemand anderer im Kreise der belgischen Maler den alten niederländischen
Traditionen treu: Liebe zum Grotesken, zum Detail, zur Narrativität. Aber nichts geht in
seinen Radierungen verloren, alles ist einem monumentalen Ganzen unterworfen. Die Arbeiten
des Malers kann man mit seinem geliebten gotischen Kathedralen vergleichen, wo zwischen
der Mehrzahl der Details immer die Hauptkonturen und Volumen deutlich sind.
Jules de Bruycker ist der größte Meister der belgischen Radierung. Er hat deutlich
mehrere Graveure beeinflußt. Solche Künstler wie Jan Donne und Henri Mortier, bildeten
ihm zufolge architektonische Motive mit derselben pathetischen Stimmung und dem Streben
nach der dekorativen Bedeutung des Estampes. Die Vorliebe für das Mittelalter und das
Phantastische hat das Schaffen eines anderen Radierers geprägt - Jules van Pomels.
Die Autorin einer neulich herausgegebenen Monographie über Frans Masereel, W. I.
Rasdolskaja, schreibt über den Einfluß de Bruyckers auf den jungen Masereel. Die Maler
waren befreundet. Aber im Ganzen, natürlich das aktive und publizistische spitze Werk
Masereel mit seiner Redner-Intonation ist sehr weit von der kontemplativen Kunst de
Bruyckers entfernt.
Jedoch Poesie und Eigenart der Werke dieses Malers, seine herausragende Meisterschaft,
geben uns das Recht, Jules de Bruycker zu den besten Radierern des 20. Jahrhunderts zu
zählen.
In unserem Land ist seine Kunst noch wenig bekannt. Das Ziel dieser Publikation war
gewissermaßen, unsere sowjetischen Leser mit dem Schaffen dieses talentierten Meisters
vertraut zu machen.