Extract from Joris von Parys, Masereel, Eine Biografie, aus dem Niederländischen übersetzt von Siegfried Theissen, Zürich 1999, S. 33-37, 171, 227, 282

 

Den Kurs "Zeichnen nach antiken Modellen" hat Masereel also "schnell überschlagen", aber auch in der Klasse "Nach der Natur" von Direktor Delvin fühlt er sich nicht in seinem Element: [...]

 

Mit Recht wird Delvin "accoucheur de talents", Geburtshelfer des Talents, gennant. Durch sein drastisches Eingreifen befreit er seinen Schüler von dem Zwang, seine Fantasie zu unterdrücken, einem Zwang, durch den sein Talent zu ersticken droht. Daher wird Masereel an die kurze Zeit bei Delvin doch eine gute Erinnerung bewahren: "Er war ein hervorragender Lehrer und darüber hinaus ein kultivierter Mensch, was in Malerkreisen in dieser Zeit, wenigstens in Gent, nicht so oft vorkam."

 

Den Radierer und Zeichner Jules de Bruycker, der ebenfalls bei Delvin studiert hat, lernt Frans in seiner Akademiezeit über seinen Stiefvater kennen. Dieser erbarmt sich in seiner Freizeit ja nicht nur vernachlässigter Haustiere, sondern nimmt sich auch mittelloser Künstler an. Lava bezahlt die Kupferplatten, die De Bruycker kauft, und lässt sich in natura bezahlen. Auf einem Foto einer Innenansicht von Masereels Elternhaus sieht man einige von De Bruyckers frühesten Radierungen aus dem Jahre 1906.

Nonkonformist, Individualist, Proletarier, Mann des Belfrieds, so nennt De Bruycker sich selbst. Auf einer Zeichnung der Genter Sankt-Niklaus-Kirche legt er seinem "Mann des Belfrieds" die Worte "Sie werden ihn nicht zähmen" in den Mund - dieselben Worte, die Masereel 1919 in Genf auf das letzte Blatt von Mon livre d'heures [Mein Stundenbuch] drucken lässt.

De Bruycker weiß, was Armut ist. Sein Geburtshaus steht in der Breydelstrasse, zwischen dem Leiefluss und dem Gravensteenschloss, in der verelendeten Innenstadt. Mit seinem jungen Freund streift er oft in den "Dutzenden, Hunderten, unzählbaren Genter Gassen und Sackgassen umher, mit unheimlichen Namen wie: Luizengevecht [Läusegefecht], Patershol [Paterhöhle], Siberie [Sibirien], Serpenstraat [Schlangenstrasse] und Bloedsteeg [Blutgasse]". Die Bilder der Elendsviertel, in denen die Sklaven des Industriezeitalters nach Arbeitstagen von zwölf und vierzehn Stunden "wie Vie auf einem Sack Heu liegen und schnarchen", wird Masereel sein ganzes Leben lang nicht vergessen. Hier empfindet er nicht nur, wie sehr der mittelalterliche Feudalismus in den Gegensätzen zwischen Textilproletariat und Baumwollmagnaten weiter wuchert, sondern auch, wie sehr er selbst in dieser "kämpferischen Stadt voller Gegensätze und Widersprüche" verwurzelt ist.

Weiss und schwarz sind die Stadtfarben von Gent - "Gent, Kopf und Herz", so beschreibt Richard Minne die rebellischste Stadt in der Geschichte Flanderns. Diese Vergangenheit, die geprägt ist von Aufstand und Widerstand gegen aufeinander folgende Angreifer, Besatzungsmächte und Unterdrücker, hat auch der Sprach der Genter ihren Stempel aufgedrückt, "einer Mundart, deren Laute einen anschnauzen wie eine Beleidigung oder einen grimmig peitschen wie eine Ohrfeuge". Sie schrecken vor nichts zurück, sagt Minne von seinen Genter Mitbürgern, ihr Wortschatz wimmelt nur so von "derben und skatologischen Dingen". In Une enfance gantoise [Kinderjahre in Gent] erzählt Suzanne Lilar, wie sie als Kind der kleinen französierten Bourgeoisie voller Ehrfurcht und Bewunderung dem Genter Platt des alten Dienstmädchens Marie lauschte: "Wie reichhaltig die Palette ihrer gemeinen Mundart war."

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Wie kein anderer hat Jules De Bruycker das Gent der ersten Jahre nach der Jahrhundertwende porträtiert. Die Menschentypen, die er auf der Strasse, im Bahnhofswartesaal dritter Klasse oder auf den billigsten Plätzen im Theater - im Olymp - beobachtet, bevölkern in seinem Werk eine Welt von Kirchen, Märkten und Gassen, in denen der Geist von Bosch und Bruegel wieder auflebt. "Er ging in eine Kneipe", sagt Chabot, "wie ein Landschaftsmaler aufs Land zieht. Dort skizzierte er, versteckt hinter einer auseinander gefalteten Zeitung." 1906 ist De Bruycker schon sechsunddreißig Jahre alt. Aus der glänzenden Zukunft, die man dem zehnjährigen Jungen mit dem erstaunlichen Talent prophezeit hatte, ist nichts geworden, denn drei Jahre, nachdem man ihn, so jung noch auf die Akademie geschickt hatte, musste er seine Ausbildung jahrelang unterbrechen, um seinen früh gestorbenen Vater, einen Tapezierer und Dekorateur, als Ernährer zu ersetzen. Frans tut alles, um älter auszusehen, als er in Wirklichkeit ist, damit der Altersunterschied weniger auffällt. In dem ältlichen Männchen auf einem gezeichneten Selbstbildnis aus dem Jahre 1909 - mit Schnurrbart, breitrandigem, flachem Hütchen, schwarzem Anzug und weitem Rock - ist der Zwanzigjährige kaum zu erkennen. Übrigens gilt dies auch für die Masereelporträts, die De Bruycker in seinem Atelier im ehemaligen Klostergebäude Patershol malt und zeichnet.

Für Frans ist De Bruycker vor allem "ein Freund, von dem ich viel gelernt habe". In Jules' Atelier lernt er die Radiertechnik, und auf ihren Streifzügen durch die Stadt lehrt De Bruycker ihn sehen, ein Auge haben für die tausenderlei Überraschungen von "le spectacle des hommes et des choses". Die Art und Weise, wie De Bruycker dauernd die Wirklichkeit mit seiner fruchtbaren Phantasie bearbeitet und ergänzt, bedeutet für Frans, der selbst mit einer außerordentlichen Imagination begabt ist, eine regelrechte Herausforderung. Die Stunden, die sie zusammen in der Kneipe `t Goude Zulleken [die goldene Schwelle] verbringen, gehören zu den besten Erinnerungen aus seiner Jugend. Übrigens tun Mussche und Chabot dem Werk De Bruyckers Unrecht, wenn sie es vergleichen mit den Zeichnungen des jungen Masereel, der "in denselben Vierteln von Gent seine Liebe zur Strasse ausdrückt in einer Menge grober Skizzen von Jahrmärkten und öffentlichen Bällen". Während Masereel noch mit elementaren technischen Problemen ringt und nicht weiterkommt als zu einem konventionellen Naturalismus, hat die Genter "Landschaft" auf den Radierungen und den Zeichnungen De Bruyckers eine universelle und manchmal apokalyptische Dimension. [S. 33-37]

 

In einem langen Bogen läuft die Rue Lamarck durch den höchsten Teil von Montmartre zur östlichen Seite des Platzes hinter dem Sacré Coeur. Ganz in der Nähe der Ecke mit der Rue Becquerel, einem Treppengässchen nördlich der Basilika, liegt ein Haus, das seit 1914 im Bau ist und erst vier Jahre nach dem Krieg fertig gestellt wird. Das er im fünften Stock ein paar Zimmer hat mieten können, nennt Masereel, angesichts des Wohnungsmangels in Paris, ein kleines Wunder. Außerdem kann er sich keine anregenderer Aussicht wünschen als von dem kleinen Hinterzimmer aus, in dem er sein Atelier einrichtet: "Paris wie in einem Schaufenster ... Ein Paris, das nicht auf Ansichtskarten zu sehen sit, die Kehrseite der schönen Fassaden." [...]

 

Für Jules De Bruycker, der an einem Sommermorgen 1925 zu Besuch kommt, ist diese Atelier der Beobachtungsposten, von dem er sein ganzes Leben geträumt hat. Er kann sich nicht von dem Fernglas trennen, das die Zimmer hinter den Fenstern zu Waben eines menschlichen Bienenkorbs vergrößert. Eine Frau, die mit ihrem Make-up beschäftigt ist, ein junger Mann, der eine Gegenpartitur einstudiert, ein Patient im Stuhl beim Zahnarzt, eine Pediküre bei der Arbeit, Kunden in einem Reisebüro: Jedes Gebäude ist eine Reihe faszinierender Kontraste, eine lebendige Sparte Lokales - eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Selbst für Freunde und Bekannte, die öfters in der Rue Lamarck zu Gast sein werden, bleibt diese Aussicht eine Attraktion. [S. 171-172]

 

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Von Félicien Rops bis Jules De Bruycker haben ein Dutzend belgischer Künstler De Costers Buch illustriert, aber Rolland zufolge war Masereel besser als sonst jemand fähig, sich in die Gestalt des Ulenspiegel hinzuversetzen: [S. 227]

 

In einer Einleitung der gemeinsamen Masereel-Nummer der flämischen Zeitschrift Kunst und Opbouwen, die im Frühjahr 1931 erscheint, sagt der Genter Galerist André Vyncke, dass man in Flandern immer wieder die Namen Minne, Ensor, Permeke, Van de Woestijne, Servaes, De Bruycker und Laermans höre, wenn von grossen flämischen Künstlern die Rede ist, während es doch Masereel sei, der mehr als jeder andere Flanderns Ruhm verbreitet habe. [S. 282]